Seit dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 ist mir immer wieder die offenbar weit verbreitete Ansicht begegnet, Buchverluste seien noch keine Verluste – denn erst mit dem Schließen der Verlustpositionen würden die Verluste realisiert werden.
Diese Betrachtung ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich: Sie führt im schlimmsten Fall zu sog. Depotleichen, zu ineffizient gebundenem Kapital, das für eine renditestarke Anlage dauerhaft nicht mehr zur Verfügung steht.
Realisierte und unrealisierte Verluste
Jeder Börseninvestor oder Trader macht früher oder später folgende Erfahrung: Die Fundamentaldaten einer Aktie sehen vielversprechend aus, der Chart zeigt einen Ausbruch oder bereits einen etablierten Aufwärtstrend, die Ampeln für ein Investment stehen auf Grün. Kaum liegt die Aktie im Depot, dreht der Kurs und entwickelt sich abwärts. Oder, was noch häufiger vorkommt, die Einschätzung bestätigt sich und der Einstieg wird mit steigenden Kursen belohnt, monatelang, jahrelang – bis sich die positive Entwicklung umkehrt und der Kurs zu fallen beginnt. Es bildet sich ein Abwärtstrend aus, der in ungeahnte Tiefen führt.
Für den Erfolg an der Börse ist folgende Einsicht entscheidend. Geld hat einen Wert und eine Kaufkraft. Wertpapiere haben einen Wert und eine Kaufkraft. Wertpapiere lassen sich an allen Handelstagen an der Börse in Geld tauschen und umgekehrt. Es spielt keine Rolle, ob die gefallenen Aktien verkauft sind oder nicht – diese Aktien haben an Wert und an Kaufkraft verloren, ob sie nun noch als Aktie im Depot liegen oder bereits wieder zu Geld umgewandelt wurden:
Es gibt keinen Unterschied zwischen realisierten und unrealisierten Verlusten! Es sind exakt die gleichen Verluste!
Verluste sind Betriebsausgaben
Sobald ein Anleger diese Erkenntnis verinnerlicht hat und nach dieser handelt, verbessert sich seine Rendite dramatisch!
Ich kann es nicht deutlich genug betonen. Verluste gehören dazu – sie sind sogar erforderlich: Verluste sind so etwas wie die Betriebsausgaben im Börsengeschäft. Ohne Betriebsausgaben lässt sich kein Geschäft führen, ohne Verluste lassen sich keine Börsengewinne erzielen. Nur wer bereit ist, Verluste einzufahren, ist auch bereit, Gewinne zu erzielen. Der Grund, warum die meisten Deutschen die Börse meiden, ist die Angst vor Verlusten. Wenn das Geld nicht investiert wird, verliert es beispielsweise auf dem Tagesgeldkonto Tag für Tag an Kaufkraft. Wer sein Geld nur nominal bewahren will, fährt mit der Zeit einen garantierten Kaufkraftverlust ein. Die fehlende Bereitschaft zu Verlusten führt letztlich zu einem garantierten Verlust.
Für den Vermögensaufbau kommt es nur darauf an, dass die Gewinne die Verluste übersteigen! Aus diesen Überlegungen folgt die zwar strapazierte, aber wichtige Börsenregel: „Verluste beschränken, Gewinne laufen lassen“.
Der Schmerz mit den Verlusten
Immer wieder höre ich von Anlegern, die Geld benötigen, sie würden „Gewinne mitnehmen“ und die Aktien verkaufen, die im Plus sind, während sie diejenigen behalten, die im Minus notieren. Richtig wäre das Gegenteil. Denn Aktien, die im Vergleich zum Gesamtmarkt relativ schwach performen, werden wahrscheinlich auch künftig schwächer tendieren. Aktien hingegen, die überdurchschnittlich an Wert gewonnen haben, werden wahrscheinlich auch künftig relativ stark sein. Es ist also viel sinnvoller, Schwäche zu verkaufen und in Stärke zu investieren.
„Aber die Aktien können sich doch wieder erholen“, ist ein häufiger Einwand. Ja, richtig, können sie. Sie können aber auch auf null fallen. Die entscheidende Frage lautet:
Gibt es Aktien, die sich ab heute wahrscheinlich besser entwickeln als die bisherigen Verlustbringer im Depot? Oder anders ausgedrückt: Würde der Anleger, hätte er noch keine Aktien, genau diesen Wert zum jetzigen Zeitpunkt kaufen oder andere Werte mit voraussichtlich höheren Renditechancen bevorzugen?
Die Gründe, warum so viele Anleger an ihren Verlustbringern festhalten, haben mit Denkfehlern und Wahrnehmungsverzerrungen zu tun, denen ich noch eine eigene Serie widmen werde. Zusammengefasst: Das menschliche Gehirn ist nicht für die Börse geschaffen und trifft dort zwangsläufig Fehlentscheidungen, sobald es nicht ausschließlich rational nach festgelegten Regeln, sondern auch emotional vorgeht.
Handlungsregeln
Im Gegensatz zu Indizes, die häufig tendenziell steigen, wenn auch unter großen Schwankungen vorübergehend nach unten, können Aktien wertlos verfallen. Während bei Index-ETFs, in denen automatische Anpassungen bezüglich der Einzelwerte vorgenommen werden, ein Aussitzen der Verluste und ein Nachkaufen von Anteilen sinnvoll sein kann – wäre das bei Aktien ein großer Fehler.
Einerseits muss man einem Investment in Einzelaktien eine gewisse Zeit einräumen, sich zu entwickeln, andererseits dürfen Verluste nicht unbegrenzt ausgesessen werden.
Erforderlich sind also allgemeine Regeln, wann eine Position wieder geschlossen wird. Im Falle des Tradings müssen es festgelegte Bedingungen für jeden einzelnen Trade sein.
Die möglichen Ausgestaltungen sind vielfältig. Sie können charttechnisch oder fundamental sein oder aus einer Kombination beider Methoden bestehen – wichtig ist nur, dass sie auch tatsächlich funktionieren und sinnvolle Verkaufssignale erzeugen.
Eines jedoch haben alle diese Verkaufssignale gemeinsam: Sie entstehen unabhängig vom Einstiegskurs – dieser ist irrelevant!
Ein Verkaufssignal kann z. B. charttechnisch festgelegt und ausgelöst werden, wenn ein bestimmter Unterstützungsbereich unterschritten wird. Diese Unterstützungsbereiche sollten dann regelmäßig nach oben angepasst werden. Im Trading ist ein solches Vorgehen notwendig. Bei der technischen Umsetzung ist die Stop-Limit-Order hilfreich.
Als allgemeine Regel für langfristige Investments in Einzelaktien habe ich persönlich eine „Aktien-Notbremse“ installiert, die als allerletzter Ausstieg für etablierte Unternehmen insofern gut funktioniert, als dass sie recht häufig große Verluste verhindert. Diese Aktiennotbremse greift, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen:
Die Aktie notiert 50 Prozent oder mehr unter ihrem historischen Hoch,
und die Aktie notiert tiefer als 10 Jahre zuvor,
und die Aktie performt schwächer als der Branchendurchschnitt.
Fazit
Die Unterscheidung zwischen Buchverlusten und realisierten Verlusten ist nicht sinnvoll, sondern ein Akt der Selbsttäuschung und damit für die gesamte Rendite des Depots schädlich. Buchverluste sind echte Verluste. In realisierter Form lassen sich sogar Steuervorteile erzielen, weil die Verluste grundsätzlich mit den Gewinnen verrechnet werden. Verluste gehören zum Börsengeschäft dazu: Nicht jedes Investment, nicht jeder Trade kann erfolgreich sein – für den Erfolg entscheidend ist, dass die Gewinne die Verluste übersteigen.