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Gewinne mitnehmen oder laufen lassen?

Ein fragwürdiger Börsenspruch lautet: „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand gestorben!“ Das mag sein. Aber durch Gewinnmitnahmen ist auch noch niemand reich geworden. Wie sieht es also nach der Rally der vergangenen Wochen aus? Sollten die Gewinne mitgenommen werden oder sollte man die Gewinne laufen lassen?

„Es kommt darauf an“, pflegen die Juristen zu sagen:

Schauen wir uns den Börsenspruch bezüglich der Gewinnmitnahmen einmal etwas genauer an. Dieser soll wohl aufzeigen, dass erst realisierte Gewinne tatsächliche Gewinne seien – allerdings ist das grundlegend falsch. Auch Buchgewinne sind echte Gewinne. Die Wertpapiere haben – ob nun in Form der Wertpapiere oder als Geld – die gleiche höhere Kaufkraft. Ebenso sind Buchverluste echte Verluste: Ob nun als Wertpapier oder in Geld besitzt die Position eine echte geringere Kaufkraft als bei ihrer Eröffnung. Die viel zitierte „Börsenweisheit“ hilft also nicht bei der Entscheidung. Vielmehr verhindert sie größere Gewinne, wenn denn das Anschlussinvestment weniger lukrativ ist als das aufgelöste.

Was uns zu der nächsten Überlegung führt: Gibt es ein aussichtsreicheres Anschlussinvestment? Das wäre ein vernünftiger Ansatz. Wobei er jedoch mit Vorsicht zu genießen ist: Denn an den Finanzmärkten gibt es ausnahmslos immer Aktien oder andere Wertpapiere, die im Moment höhere Renditen erzielen als die Wertpapiere, in denen man gerade selbst investiert ist. Jedoch ist die Einzeltitelauswahl in Verbindung mit dem richtigen Timing eine Kunst, an der fast alle scheitern bzw. an der langfristig alle scheitern. Es gibt Situationen, in denen sich eine Umschichtung tatsächlich lohnt. Etwa in oder am Ende von Übertreibungsphasen, bei klaren Branchenrotationen oder wenn sich der Zeithorizont ändert.

Apropos Zeithorizont: Wer beispielsweise für eine Immobilie oder eine größere Anschaffung in Aktien investiert hat und diese Anschaffung in den nächsten Wochen bevorsteht, der sollte tatsächlich über Gewinnmitnahmen nachdenken. Kurzfristig sind Kursverläufe immer sehr viel spekulativer und schwieriger zu händeln als mittel- und langfristig. Rückschläge sind jederzeit möglich. Ob man Gewinne mitnehmen oder laufen lassen sollte, hängt also auch vom Zeithorizont ab.

Am Ende geht es wie immer um Wahrscheinlichkeiten. Wie ich schon öfter beschrieben habe, kommt es an der Börse vor allem darauf an, mit der höheren Wahrscheinlichkeit zu handeln und nicht gegen sie.

Chart des S&P 500 mit eingezeichneten Signalen ...

Die Abbildung zeigt die letzten sechs Monate des Leitindex S&P 500 im Tageschart, jede Kerze entspricht also einem Handelstag. Charttechnisch ist der Aufwärtstrend intakt. Unklar und international unterschiedlich sind die Entwicklungen der Zinsen. Am wichtigen US-Markt sollten die Kapitalmarktzinsen der 10-jährigen Staatsanleihen das Hoch vor wenigen Wochen endgültig hinter sich gelassen haben. Das wäre gut für Aktien. Die Rohstoffpreise notieren tief. Das Sentiment ist noch lange nicht euphorisch. Auch saisonal steht alles auf Jahresendrally.

Kurz: Die überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht für weiterhin steigende Kurse. Wer mit den höheren Wahrscheinlichkeiten handelt, lässt die Gewinne laufen, bis der Aufwärtstrend bricht, was übrigens jederzeit passieren kann, in der kommenden Woche oder erst in vielen Monaten. Ich bleibe investiert und lasse mich überraschen.