Im Allgemeinen heißt es, für Börsengeschäfte sei eine gewisse Risikobereitschaft erforderlich. Das ist richtig – aber es gehört etwas Weiteres dazu: Die Risikofähigkeit.
Ein anschauliches Beispiel findet sich in der Literatur. Aus dem Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, der im Übrigen eine große Lesefreude bereitet, ist mir nach fast drei Jahrzehnten ein Satz in Erinnerung geblieben, der mit der Zeit zu einer meiner Handlungsmaximen geworden ist. Die Buddenbrooks führten über Generationen umfangreiche Familienaufzeichnungen. Ein Rat des alten Johann Buddenbrook, dem Gründer der Getreidefirma, an seine Nachkommen lautete: „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.“ Dieser Rat ermahnt dazu, stets die Risikofähigkeit zu beachten.
Viele Jahrzehnte später kaufte der Urenkel Thomas Buddenbrook, dessen Geschäfte schon für geraume Zeit schlechter liefen, noch nicht reifes Getreide „auf dem Halm“ zu einem Preis, den er mit dem späteren Verkauf der Ernte verdoppeln wollte. Der Einsatz war mit „vierzigtausend Courantmark“ hoch. Mit dem Gewinn von 100 Prozent sei er „wieder hergestellt“, hoffte Thomas Buddenbrook. Zur hundertjährigen Firmenfeier vernichtete ein Hagel die Ernte, womit Thomas Mann den Niedergang der Familie Buddenbrook einläutete.
Unabhängig davon, dass Warentermingeschäfte auch heute der Normalfall sind, hat Thomas Buddenbrook zwei Fehler begangen: Er sicherte sein Geschäft nicht ab und der Einsatz, also die Positionsgröße, war zu hoch. Der Verlust der Ernte hatte verheerende Folgen.
Risiko = Gefahr x Wahrscheinlichkeit.
Das Risiko darf niemals so groß sein, dass die Folgen eines nicht unwahrscheinlichen Worst-Case-Szenarios das eigene Handeln oder gar das Leben nachhaltig beeinträchtigen würden.
Ein plastisches Beispiel ist die Alkoholfahrt mit dem Pkw nach einem Kneipenbesuch. Gewinnen lässt sich die Ersparnis einer Taxifahrt. Der mögliche Verlust hingegen ist unbeschränkt.
An der Börse ist es dringend notwendig, so zu agieren, dass das Eintreten des Worst-Case-Szenarios extrem unwahrscheinlich ist oder keine Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit und das Leben hat. Das lässt sich mit einer vernünftigen Positionsgröße und durch Absicherungen erzielen.
Risikobereitschaft ist die mentale Verfassung im Moment des Geschäftsabschlusses oder der Handlung.
Risikofähigkeit hingegen bedeutet einerseits die subjektive Fähigkeit, mit dem eingegangenen Risiko mental umgehen zu können und andererseits die objektive Feststellung, äußerst wahrscheinlich keinen einschneidenden Schaden zu erleiden.
Mit der Überlegung in Bezug auf ein risikobehaftetes Vorhaben, ob man nachts ruhig schlafen könnte, sobald es umgesetzt wäre, lässt sich eine rasche Vorprüfung der eigenen Risikofähigkeit durchführen.